Ethan & Tamsyn: Lüge!

Die Kopf­schmerzen set­zten wie das Amen im Gebet ein, ich blieb am Wal­drand zurück, presste zwei Fin­ger gegen die häm­mernde Stirn. Scheiße! Nur langsam däm­merte mir, was ich da eigentlich ger­ade zu hören bekom­men hat­te — diese Frau war eine eiskalte Mörderin! Und ich … hat­te natür­lich nichts besseres zu tun, als sie zu trösten, ja, ihr sog­ar meine Hil­fe bei weiß Gott was anzu­bi­eten. Jet­zt hing ich mit­ten in der Scheiße mit drin, drauf und dran, mich zum Mit­täter zu machen.  Und das alles nur, weil ich Frauen nicht weinen sehen kon­nte. Noahs uner­warteter Auftritt musste mir gehörig den Ver­stand vernebelt haben!

Ich blick­te auf, als Tamys Stimme vom Haus her erk­lang. Diese Nacht? Diese eine Nacht? Ver­dammt, diese eine Stunde mit ihr war schon zu viel gewe­sen, ich … Eigentlich wollte ich das alles gar nicht wis­sen! Ich ver­fluchte mich inner­lich für das, was ich ange­fan­gen hat­te und jet­zt würde ich einiges darum geben, ich hätte es nicht getan. Sie gehörte ganz ein­deutig hin­ter Git­ter, nicht hier­her … Warum zum Teufel war sie über­haupt noch auf freiem Fuß? Selb­st aus der Ferne kon­nte ich das leuch­t­ende Türk­is­blau ihrer Augen erken­nen, das vom Weinen gerötete, so beza­ubernd schöne Gesicht. Mein Gott … Sah so eine Frau aus, die ihren Gefährten kalt­blütig ermordet hat­te? Und war ich wirk­lich so bescheuert, allein dieses Anblicks und des herz­er­we­ichen­den Fle­hens in ihrer Stimme wegen darüber nachzu­denken, ein sehr viel stärk­eres Echo zu riskieren? Ein­mal ganz davon abge­se­hen, dass ich mich ger­ade selb­st schon wie ein ver­dammter Ver­brech­er fühlte, nur weil ich jet­zt wusste, was ich wusste.

Scheiße nochmal, das hier war ein­deutig zu heiß für mich. Ich musste die Fin­ger davon lassen! “Diese eine Nacht”, hörte ich mich sagen, als ich mich mit wum­mern­dem Schädel in Bewe­gung set­zte, um ihr ins Haus zu fol­gen. “Und nur diese eine.” Denn mor­gen würde ich per­sön­lich dafür sor­gen, dass sie sich für das, was sie getan hat­te, stellte.

*****

Mehr brauche ich nicht, dachte ich in dem Moment, als Ethan mir antwortete und ins Haus folgte.

Nur diese eine Nacht …  Lüge! Ich bel­og mich selb­st in dem ich mir einzure­den ver­suchte, diese eine Nacht würde reichen. Das würde es nicht. Niemals wieder würde eine Nacht reichen.

Ich ahnte nichts von seinen Gefühlen und Gedanken. Ver­schwen­dete keine Sekunde daran, dass es  zu viel für ihn sein kön­nte. ICH zu viel für ihn sein kön­nte. Vielle­icht war ich ego­is­tisch, aber …  hat­te ich nicht auch ein Recht darauf ein­mal zur Ruhe zu kom­men? Nur ein einziges Mal noch, bevor die Ver­gan­gen­heit mich im Hier und Jet­zt ein­holte? Wusste irgend­je­mand, wie es sich anfühlte, die Flut näher kom­men zu sehen?  Unfähig sich zu bewe­gen; zu wis­sen, dass man gle­ich ertrinken würde. Jeden Moment ertrinken würde … Ich! Die Frau, die ihr ganzes Leben für das Wohl ander­er gekämpft, die den hip­pokratis­chen Eid geleis­tet und nie etwas mehr in ihrem Leben angestrebt hat­te, als Gerechtigkeit. ICH habe meinen Gefährten erschossen. „NEIN … es war … ein Unfall!“, rief ich meinen Gedanken laut aus, ohne mir dessen bewusst zu sein und stützte mich schw­er atmend an der Hauswand ab. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn, während mein Atem nur noch stoßweise ging. Es war wieder mal so weit. Meine Dämo­nen hat­ten mich einge­holt. Wie jede Nacht. Immer zur gle­ichen Zeit. Die Sicht ver­schwamm vor meinen Augen. Alles, was ich jet­zt noch erken­nen kon­nte, war das Gesicht meines Gefährten. Seine vor Über­raschung und Schmerz geweit­eten Augen. Dieser Blick … Niemals werde ich diesen let­zten Blick wieder aus meinen Erin­nerun­gen ver­ban­nen kön­nen. „Es … war ein Unfall …“, ver­suchte ich mir selb­st einzure­den. „Ein … Unfall!“, stam­melte ich und rutschte langsam an der Wand nach unten. Auf dem Boden kniend, grub ich meine Fin­ger fest in den gefrore­nen Unter­grund. Ver­suchte mich zu erden. Halt zu find­en. „Hilf mir … bitte … Mach, dass es aufhört!“, fle­hte ich Ethan an. „Nur diese eine Nacht. Versprochen.“

Lüge…,  flüsterte die Stimme in meinem Kopf …

Lüge…  Du bist eine Lügner­in … Eine Ver­rä­terin …  Eine Mörderin …

[Textab­schnitt © Nicol Stolze @ Tam­syn Matthew]

*****

Wenig­stens hat­te ich doch noch recht schnell ger­afft, dass das Ganze hier ein­deutig eine Num­mer zu groß für mich war. Und genau deshalb würde ich mich schön sauber wieder aus der Affäre ziehen … spätestens bei Son­nenauf­gang. Das einzig Richtige tun. Wenn Sie glaubte, ich würde ein­fach die Klappe hal­ten; dass sie mich zum Kom­plizen machen kon­nte, dann hat­te sich die Kleine ganz schön geschnit­ten, soviel war klar! Ja, vielle­icht hätte sie mir diese ganze Sache nicht unbe­d­ingt erzählt, hätte ich nicht auf meine gedanken­los char­mante Art ein biss­chen nachge­holfen. Aber sollte ich deshalb nun etwa ein schlecht­es Gewis­sen haben? Wie zum Henker hat­te ich denn ahnen kön­nen, WAS da hin­ter der makel­los schö­nen Fas­sade steck­te, hin­ter diesen Augen …

Ein Unfall … Mein Gott, ich wurde die gedankliche Vorstel­lung in meinem Kopf nicht mehr los — sie hat­te eiskalt auf ihn angelegt, hat­te abge­drückt, wieder und wieder und wieder …  Meine Schritte beschle­u­nigten sich von selb­st, als ich sie verzweifelt an der Haus­mauer zusam­mensinken sah. Ich kon­nte mir das ein­fach nicht mit anse­hen! Vielle­icht war doch etwas Wahres dran, vielle­icht …  Zum Teufel, ich wollte ihr diese eine Nacht geben. Was war auch schon eine einzelne Nacht? Gar nichts. Und wenn es ihr diese paar Stun­den lang Erle­ichterung ver­schaffte, dann war es doch irgend­wie auch eine gute Tat, oder? Lüge …, flüsterte etwas in meinen Gedanken, das ich schnell wieder ver­drängte, während ich mich zu ihr hin­unter beugte, sie san­ft hoch und schließlich auf meine Arme zog. Lügn­er. Warm drück­te ich das zit­ternde Bün­del an meine Brust, als ich sie ins Haus zurück trug.

Sean: So finster die Nacht …

Ich hielt mich schon den ganzen Abend im Hin­ter­grund und war darauf bedacht, Cath möglichst viel Freiraum zu lassen. Wenn sie etwas brauchte, musste sie mich nur fra­gen und anson­sten ver­hielt ich mich schweigsam; saß auf einem Stuhl in ein­er unbeleuchteten Ecke, blät­terte in der aktuellen Aus­gabe des Forbes Mag­a­zine, eine schwere Beretta griff­bere­it im Brusthol­ster und warf ab und zu einen Blick auf die sich schlaf­los hin und her wälzende Frau im Bett neben mir. Die Tat­sache, dass ich mich auf Kalebs Anweisung hin die ganze Zeit in ihrem pri­vat­en Wohn­bere­ich aufhielt, um stets in ihrer Nähe zu sein, sollte möglichst nicht zu ein­er zusät­zlichen Belas­tung für sie wer­den. Ich sah ihr nur zu deut­lich an, wie sehr die Schwanger­schaft an ihr zehrte; die dun­kler wer­den­den Augen­ringe, der müde Blick und die fahle Farbe ihrer Haut sprachen in let­zter Zeit für sich. Es schmerzte mich, sie so zu sehen — und nicht nur ein­mal hat­te ich mich gefragt, ob ihr Kör­p­er zwei so der­maßen beschle­u­nigte Schwanger­schaften inner­halb kurz­er Zeit über­haupt verkraften konnte.

Mein Blick fol­gte ihr besorgt, als sie schließlich aus dem Bett glitt und unruhig durch den Raum ging; das aufgeschla­gene Heft auf meinem Schoß war vorüberge­hend vergessen. Doch Cath war eine aus­ge­sprochen starke Frau, die bish­er alle Her­aus­forderun­gen gemeis­tert hat­te. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hätte sie auch die Geburt von Kalebs Sohn über­standen und kon­nte wieder zu Kräften kom­men. Sog­ar jet­zt, in diesem geschwächt­en und hochschwan­geren Zus­tand, war sie wun­der­schön; ich kon­nte mir nicht vorstellen, dass es eine zweite Frau auf dieser Welt gab, die ihren Kugel­bauch auch nur annäh­ernd so anmutig vor sich her trug wie sie. Wie so oft ruhte mein Blick auf ihrer schmalen Sil­hou­ette, als sie reg­los und mit dem Rück­en zu mir am Fen­ster stand, san­ft beschienen von den vielfälti­gen Lichtern der Nacht, die draußen über Boston lag. Dort, wo ihre warme Hand das Fen­ster berührte, beschlug es leicht und zeich­nete so die Kon­turen ihrer viel zu knochi­gen Fin­ger auf das Glas. Ich kon­nte ihre wach­sende Anspan­nung beinah fühlen; nahezu greif­bar schwebte sie in der nächtlichen Stille des Schlafz­im­mers. Und da war noch mehr; so vieles, was ich mit meinen vam­pirischen Sin­nen wahrnahm, wenn ich es nur zuließ. Ihr schwach­er, würziger Duft, der aufgewühlte Herz­schlag; Atemzug um Atemzug, jed­er davon fast ein wenig müh­sam. “Wenn du hier bist … wer achtet dann da draußen auf meinen Gefährten, Sean …”, durch­brach Caths Stimme das Schweigen, und ich run­zelte besorgt die Stirn.

Bere­its seit Tagen ver­suchte ich, möglichst viel Gelassen­heit auszus­trahlen; ihr keinen auch nur gerin­gen Anlass zur Sorge zu geben. Sie war hochschwanger und völ­lig erschöpft; jede Aufre­gung wäre pures Gift für sie und das unge­borene Kind. Aber das änderte alles nichts daran, dass ich ihr ins­ge­heim zus­tim­men musste. Ich wusste, dass Kaleb im Augen­blick an etwas sehr Großem dran war, etwas das, wenn heute Nacht alles gut ging, dem Orden einen ersten schw­eren Schlag mit­ten in die Weichteile ver­set­zen würde. Wir hat­ten schließlich lange genug darauf hingear­beit­et. Und dass ich hier war, anstatt mit ihm dort draußen zu sein; dass ich seine Gefährtin bewachte, hier, in einem Gebäude, das mit der aus­gek­lügelt­sten Sicher­heit­stech­nik in weit­em Umkreis aus­ges­tat­tet und somit jedem Hochsicher­heits­ge­fäng­nis weit über­legen war, gren­zte gewis­ser­maßen an Para­noia. Und doch … An Kalebs Stelle hätte ich ver­mut­lich auch nicht anders gehan­delt. Ich erhob mich, legte die Zeitschrift bei­seite und trat zu Cath. Meine Hand legte sich warm auf ihre Schul­ter und ich begeg­nete dem Blick ihres Spiegel­bilds in der weitläu­fi­gen Glas­fläche vor uns. “Mach dir keine Sor­gen, Cath. Er hat seine besten Män­ner dabei, und er weiß sehr genau, was er tut.”

Ich trat zwei Schritte zurück, als sie sich zu mir umwandte; begeg­nete ihr mit einem zuver­sichtlichen Lächeln. Mein Gott, aus der Nähe erkan­nte ich erst, wie müde sie wirk­lich war. Kaleb sollte bess­er schon recht bald wieder zurück sein; sie brauchte sein Blut genau­so sehr wie seine Anwe­sen­heit, damit sie endlich für ein Weilchen zur Ruhe kam. Ich presste die Lip­pen aufeinan­der, während meine Aufmerk­samkeit über die aschfahlen Züge der Frau vor mir glitt. Es war nicht das erste Mal, dass ich mir inständig wün­schte, ihr bei­des geben zu kön­nen. “Was hat er dir gesagt, wo er heute Nacht ist?” — Ich wich ihrem Blick aus, als sie näher kam und schüt­telte langsam den Kopf. “Bitte, Cath, tu dir das nicht an.” Doch sie ließ nicht lock­er. Natür­lich wusste ich, wo er war — und ich wusste auch ganz genau, was er vorhat­te. Vor allen Din­gen aber war mir klar, mit wem er sich anlegte, und genau das war es, was meine sorgsam zur Schau gestellte Gelassen­heit Lügen strafte. Ich sollte bei ihm sein. Aber gle­ichzeit­ig wollte ich auch nichts so sehr, wie hier bei Cath zu sein. Jemand musste schließlich auf sie acht­en, auch wenn es unwahrschein­lich war, dass sie hier im Tow­er in Gefahr geri­et. Aber genau­so gut kon­nte sie plöt­zlich die Wehen bekom­men oder es kon­nte etwas mit dem Kind sein — oder aber sie brach endgültig unter der Erschöp­fung zusam­men, die sie so grausam zeich­nete. Jemand musste sie auf­fan­gen, und dieser Jemand würde ich sein, solange Kaleb nicht in der Nähe war. “Er ist auf ein­er … etwas heiklen Mis­sion”, antwortete ich auswe­ichend, aber so weit es ging, wahrheits­gemäß. Genau­so wenig, wie ich mein Ver­sprechen Kaleb gegenüber brechen wollte, wollte ich Cath ins Gesicht lügen müssen. “Aber wie gesagt, du musst dich nicht sor­gen. Es ist alles von langer Hand geplant und vor­bere­it­et. Er wird sich nicht mehr als unbe­d­ingt nötig in Gefahr begeben, schon allein, weil er weiß, dass du und sein unge­borenes Kind hier auf ihn wartet. Du kennst ihn doch — Kaleb über­lässt nie irgend­was dem Zufall.”

Ver­mut­lich redete ich mit diesen Worten eher mir selb­st ein, dass es keinen Grund zur Beun­ruhi­gung gab, aber hier und jet­zt war ein­fach auch über­haupt kein Platz dafür, meine eigene innere Unrast nach außen drin­gen zu lassen. Alles, was Cath brauchte, war Ruhe und ein sicheres, sta­biles Umfeld. Ich legte behut­sam eine Hand zwis­chen ihre Schul­terblät­ter, um sie mit san­fter Bes­timmtheit zurück zum Bett zu führen. “Komm, Cath … setz dich doch wenig­stens. Du siehst müde aus. Und hör auf, dich mit solchen Gedanken zu quälen. Kaleb ist doch bish­er immer zu dir zurück­gekehrt, warum sollte es aus­gerech­net heute anders sein?”

Basmah: Finally coming home

Schon die erste Berührung von ihm riss mich augen­blick­lich aus der Ver­gan­gen­heit und dem wirren angstvollen Kon­strukt her­aus, in das ich mich geflüchtet hat­te und beförderte mich san­ft aber unnachgiebig sofort zurück ins Hier und Jet­zt. Mit einem Mal war die Kälte, die Angst und Unsicher­heit wieder dieser alles umfan­gen­den Wärme gewichen; war der Wolf ganz nah und alles andere als ein irres Hirnge­spinst. Für meine innere Wölfin war die Wahrheit, die hin­ter dieser Berührung steck­te, das Einzige, was zählte. Sie dachte nicht nach, hing nicht in ver­gan­genen Schreck­en fest, fühlte wed­er Selb­stver­ach­tung, noch die Schmerzen und die Demü­ti­gun­gen, die schon längst hin­ter ihr lagen. Die Verbindung zu ihrem Alpha war jet­zt greif­bar, sie war ein unsicht­bares und unwider­ru­flich­es Band, intimer als jedes Wort, jed­er Kuss, jede Umar­mung. Und beständig. Sie war ein Band, das mehr ihrer und sein­er Natur entsprach als es jede Dis­tanz, jed­er Zweifel, jede furcht­same Leug­nung, die der Ver­stand mir einzure­den ver­suchte, je sein kön­nte. Was Clay in mir her­vor­rief, waren Mut und Stärke, waren Wild­heit und Treue, war eine Ergeben­heit, die nichts mit Erniedri­gung zu tun hat­te, son­dern mein wahres Wesen auf diese san­fte, uner­schüt­ter­liche Weise ansprach, wie es nur der Alpha kon­nte. Er war hart­näck­ig, wie er mich in seine Arme zog, mich so lange fes­thielt, bis seine innere Ruhe und Zuver­sicht mich wie ein wär­mender Strom füllte, meine Trä­nen ver­siegen und meinen Puls sowie meine Atmung ruhiger wer­den ließ. Jet­zt kon­nte ich vergessen, für die Dauer langer Momente, Minuten, Stun­den; ich wusste nicht, wie viel Zeit verg­ing, bis er mich zurück zu der Liege trug. Und ich kon­nte ein­fach zulassen, was zwis­chen uns war, ohne es auch nur einen Augen­blick lang erneut in Frage zu stellen, ja, sog­ar ohne zu ver­suchen, es zu verstehen.

Schließlich war es sein Blick, waren es seine Hände, die mich fes­thiel­ten, und der uner­schüt­ter­liche Strom sein­er Liebe, der mein Inner­stes aus­füllte; mit ihrer puren Inten­sität jegliche Möglichkeit ein­er anderen Empfind­ung als diese aus vollem Herzen zu erwidern, ein­fach zurück drängte. Und die Wölfin in mir wollte nichts sehn­lich­er, als geweckt wer­den, aus dem Gefäng­nis ihrer men­schlichen Gestalt befre­it wer­den; mit ihm an ihrer Seite das Geschehene für immer hin­ter sich lassen. Mein ganzes Leben lang war mir eingeprügelt wor­den, dass ich nichts wert war, und doch hat­te ich immer wieder einen Weg gefun­den, wenig­stens mir selb­st zu beweisen, dass das nicht stimmte. Ich hat­te mich aus meinen Fes­seln befre­it, auch wenn diese Frei­heit immer nur vorüberge­hend war; hat­te hart und still und heim­lich darum gekämpft, mir die Lust am Leben zu bewahren. Und es war mir gelun­gen, ent­ge­gen aller Widrigkeit­en. Bis zu diesem heuti­gen Tag. Bis zu dem Punkt, an dem mein Lebenswille einge­brochen war. Clay ent­fachte ihn, ent­fachte ihn neu, als er meine Hand auf sein Herz legte. Ich kon­nte es spüren, deut­lich­er und kräftiger denn je, wie es für mich schlug. „Ich habe mich nie wie eine von ihnen gefühlt …“, flüsterte ich, als sich meine Fin­ger an sein­er Brust zusam­men zogen und sich über seinem Herzen in sein Hemd ver­gruben. „Vielle­icht war und bin ich genau­so wenig Men­sch, wie du es bist, Clay … Die Wölfin war mir immer so viel näher … Sie … sie war es, die mir den Über­lebenswillen gab; die Kraft immer weit­er zu kämpfen. Ich … ich habe nie dazuge­hört, und den­noch fühlte ich mich immer mitschuldig für die Tat­en, für die sie Allahs Namen miss­braucht­en …“ Plöt­zlich zit­terte ich, run­zelte von einem furcht­samen Beben erfasst die Stirn und senk­te meine Lid­er. „Hast du … es gese­hen? Ich meine, hast du es … mitange­se­hen?“ Es ver­strichen ein paar bange Momente, in denen ich sein­er Antwort har­rte. Dann biss ich mir leicht auf die Unter­lippe, ließ kurz die Zun­gen­spitze fol­gen, als ich den Blick hob und ihn ver­trauensvoll in seinen legte. „Wird das von jet­zt an immer so sein? Werde ich … dich immer in mir spüren?“ Ich erin­nerte mich daran, dass er gesagt hat­te, er hätte mein Leben an sich gebun­den. Das machte mir Angst, vor allem, weil ich die volle Bedeu­tung dessen noch nicht annäh­ernd ver­stand. Ich hat­te nicht die ger­ing­ste Ahnung davon, was für ein Wesen da wirk­lich in ihm wohnte und was dieser Mit­ter­nachtsstamm genau war, von dem er sprach. Aber eines wusste ich in diesem Moment mit uner­schüt­ter­lich­er Gewis­sheit: Dass ich ihm fol­gen wollte, egal wohin. Ich wollte ihm meine Liebe und meine Hingabe schenken und ihm fol­gen, weil er das einzige Zuhause war, das ich hat­te. Ich wollte fort aus der Welt der Men­schen, die mir immer so fremd gewe­sen war. „Ich will bei dir sein.“ Es war nur ein Hauchen, das über meine Lip­pen floss, als ich Stirn und Nase an seine lehnte. „Ich will vergessen … und ich will bei dir sein. Auf dieselbe Weise, wie du bei mir bist.“

Ethan: Geliebter Feind

In diesem Moment ver­achtete ich ihn. Ich ver­achtete Noah dafür, dass er meinem Schlag nicht auswich, obwohl ich ganz genau wusste, dass er es lock­er gekon­nt hätte. Und am meis­ten Ver­ach­tung emp­fand ich dafür, dass er ihn ein­fach hin­nahm, ohne ein Wort, und ohne auch nur Anstal­ten zu machen, sich zur Wehr zu set­zen. Nein, das hier war nicht der Noah, den ich kan­nte. Ich kon­nte sehen, riechen, fühlen, wie er inner­lich kurz vor der Explo­sion stand und sich trotz­dem zurück­hielt, und ich kon­nte nicht anders, als ihn dafür zu ver­acht­en. Zumin­d­est … bis zu dem Moment, den ich nun ganz und gar nicht kom­men sah, so wut­sprühend wie ich ihm all meine Ver­ach­tung in Worten ent­ge­gen spuck­te. Er sprang mich an wie ein ent­fes­sel­ter Berserk­er; ich hat­te keine Chance, über­haupt zu reagieren oder auch nur über­rascht zu sein, don­nerte unter seinem brachialen Angriff mit Schwung auf den vereis­ten, von ein­er dün­nen Schneeschicht bedeck­ten Boden, dass zu allen Seit­en gefrorene Eiskristalle auf­s­to­ben. Bevor ich wusste, wie mir geschah, schlug seine Faust so dicht neben meinem Gesicht ein, dass ich den Luftzug wie einen Messer­schnitt an mein­er Wange spüren konnte.

Mir blieb für einen Moment die Luft weg, weshalb ich mich wed­er regen, noch dem irren Lachen nachgeben kon­nte, das mir plöt­zlich in die Kehle stieg. Heilige Scheiße … Ich hat­te mich schon so daran gewöh­nt, die Dinge mit meinen Fäusten zu klären, dass es fast eine Erle­ichterung war. Sollte er doch zuschla­gen, sollte er mir doch Gründe liefern, zurück­zuschla­gen, denn das war ver­dammt nochmal etwas, wom­it ich bestens umge­hen kon­nte! Ganz im Gegen­satz zu den um Wel­ten härteren Schlä­gen, die er jet­zt mit Worten austeilte. Das … das war etwas, wom­it ich über­haupt nicht klar kam; das war etwas, was wirk­lich wehtat und was ich nicht ein­fach mit meinem Kör­p­er und zusam­menge­bis­se­nen Zäh­nen abfan­gen kon­nte. Und ich ver­stand … Mit einem Mal ver­stand ich jede einzelne Silbe, jedes Funkeln von Wut in Noahs Augen, jedes müh­sam unter­drück­te Beben von Schmerz in sein­er Stimme. Hätte er mit einem Mess­er in meinen Eingewei­den gewühlt, es hätte nicht ver­nich­t­en­der sein kön­nen. Ich war mir so … so ver­flucht sich­er gewe­sen, dass ich bere­it war, bere­it, jet­zt endlich hinzuse­hen, mir das Leid anzuse­hen, das ich ver­schuldete, nach­dem ich mehr als ein halbes Jahrhun­dert lang die Augen davor ver­schlossen hat­te. Aber ich war es nicht; wäre ver­mut­lich niemals bere­it dafür gewe­sen. Wir bei­de wussten, wie Recht er mit dem hat­te, was er mir an den Kopf warf – und wir bei­de wussten, dass die Wut, die er damit immer noch mehr in mir schürte, in Wahrheit mir selb­st galt.

Basmah: Seelensplitter

Er hat­te gelächelt. Er… hat­te mich angelächelt, noch im sel­ben Moment, wo seine Augen brachen; wo mein pur­er, rein­er, ungezügel­ter Hass seinen Kör­p­er mit Kugeln durch­set­zte, das wert­lose, niederträchtige Leben aus ihm her­aus­fet­zte, ihn zer­störte, ihn für alle Zeit­en von dieser Erde tilgte, damit er nie, niemals wieder jeman­dem etwas antun, keine Frau mehr anfassen kon­nte. Ich kon­nte an nichts anderes mehr denken, als dieses Lächeln, dieses tri­umphale Lächeln, mit dem Jay seinen let­zten Atemzug tat, und das sich noch tiefer in mich ein­bran­nte als seine Schläge, seine bru­tale Inbe­sitz­nahme; noch tiefer als das Bren­nen seines heißen Samens in meinem wun­den Inneren. Es bran­nte sich tief in meine Seele. Ich hat­te mir geschworen, nie wieder zum Opfer zu wer­den, mich niemals wieder so miss­brauchen und erniedri­gen zu lassen, und doch … doch hat­te ich es zuge­lassen. Noch im Tod war seinem Gesicht deut­lich anzuse­hen, dass er genau das bekom­men hat­te, was er gewollt hatte.

Ich würgte, als bit­tere Galle meine Kehle hoch stieg, würgte sie wieder hin­unter, bebte und zit­terte, mein Blick starr und schock­geweit­et; kon­nte ihn nicht von dem lächel­nden Gesicht des Mannes abwen­den, der sich an mir ver­gan­gen hat­te. Ich fuhr heftig zusam­men, als sich warme Hände um meine legten, mir die Waffe abnah­men; eine dun­kle, wohlbekan­nte Stimme san­ft auf mich einre­dete. Mein Zit­tern ver­stärk­te sich noch bei der behut­samen Berührung meines Gesichts; ich kon­nte nicht … kon­nte nicht denken, kon­nte mich nicht los­reißen, kon­nte nichts anderes tun, als zu star­ren; dieses Lächeln, immer wieder dieses Lächeln, für die Ewigkeit kon­serviert. Instink­tiv ver­steifte sich mein Kör­p­er, als ich schließlich hochge­hoben wurde; diese Nähe, sie erin­nerte mich, sie … bei Allah, ich kon­nte … kon­nte diese Nähe nicht ertra­gen, ich wollte … wollte … Den Blick immer noch auf Jays Züge fix­iert, grub ich meine Fin­ger in Clays Schul­ter, presste meine Hand­flächen gegen ihn, in dem halb­herzi­gen Ver­such, mich aus dieser viel zu kör­per­lichen Nähe zu befreien, doch er drück­te mich nur fes­ter an sich, hielt mich, hielt mich zusam­men, damit ich nicht in tausend Stücke zer­brach. Und dann … endlich, ver­schwand der Anblick des lächel­nden Toten aus meinem Sicht­feld, und meine innere Wölfin erin­nerte mich. Erin­nerte mich an die Wärme, die mich umgab, den kraftvollen, schützen­den Alpha, der mich auff­ing, das Einzige auf dieser Welt, das mir so nah war, so nah, dass es mich instink­tiv immer wieder berührte; mein­er ver­wun­de­ten Seele ein Zuhause gab. Und ich weinte, als die Trä­nen endlich kamen, weinte bebend und zit­ternd und schluchzend, die Fin­ger in Clays Hemd und mein Gesicht an seinem Hals vergaben.

Basmah: “… Mistkerl!”

Er … er kon­nte bei mir gar nichts erre­ichen, mit diesem Blick, gar nichts! Ich dachte ja über­haupt nicht daran, auch nur einen Augen­blick lang nicht wütend auf ihn sein zu kön­nen, oder … oder eher zu wollen; ich dachte nicht, nein, nicht EINEN Herz­schlag lang an die exo­tis­che graublaue Tiefe sein­er Augen oder … — bei Allah! — … oder sog­ar die Weich­heit sein­er Lip­pen, um die herum sich diese viel zu ver­lock­enden Lügen aus kleinen Grübchen bilde­ten, als er lächelte. Ich dachte an gar nichts davon, pah! Als kön­nte dieser unge­ho­belte Kerl mich mit solchen plumpen kleinen Tricks aus dem Konzept brin­gen! Ein­hal­tung mein­er Pflicht­en … Meine Sicher­heit? Ich schnaubte. Mich hat­te noch nie jemand vor irgen­det­was beschützt, also kon­nte er get­rost ganz schnell wieder seine dreck­i­gen großen Pfoten von mir nehmen; als ob ich seinen Schutz nötig hätte, jet­zt, wo mir prak­tisch schon alles zugestoßen war, was mir über­haupt passieren kon­nte – inklu­sive dieses … dieses … Und übri­gens, dieses vib­ri­erende, total un… unmen­schliche, jawohl, dieses Knur­ren, das sich für einen Mann, der etwas auf sich hielt, über­haupt nicht gehörte und das meine innere Wölfin von Unruhe gepackt im Kreis tänzeln ließ, aus­gerech­net jet­zt – das kon­nte er sich auch sonst­wo hinstecken!

Plöt­zlich ging ein Ruck durch ihn und ehe ich mich ver­sah, hing ich wehrlos­er als noch zuvor über sein­er Schul­ter, drück­te ebendiese mir in den Bauch, dass mir vor Schreck Momente lang die Luft weg­blieb und ich erstar­rte, ver­s­tummte aber vor allen Din­gen völ­lig. Das leise “Pling” des Aufzugs, das von unser­er Ankun­ft an der Erdober­fläche kün­dete, klang für mich fast ein biss­chen schaden­froh, und dann ver­nahm ich eine zweite männliche Stimme, die von irgend­wo genau dort herkam, wo sich jet­zt mein Hin­terteil befand! Ich spürte, wie sich das Blut heiß in meinen Wan­gen sam­melte und sie zum Glühen, nein, ger­adezu zum Bren­nen brachte, und das nicht nur, weil ich kopfüber hing und bei jedem Schritt prak­tisch gezwun­gen – ja, gezwun­gen! – war, aus entset­zt geweit­eten Augen direkt auf Chan­dlers uner­hört gut geformte Rück­an­sicht zu star­ren. Nein, es war die pure Scham, die mir die Röte ins Gesicht trieb, dicht gefol­gt von ein­er unbändi­gen Wut, die mich nur noch mehr beschämte. Wie kon­nte er nur! Wie kon­nte er mich nur auf eine so unzüchtige Weise vor aller Welt bloß stellen; mich in eine solch hil­flose und unvorteil­hafte Sit­u­a­tion brin­gen? Ich ver­suchte, um keinen Preis daran zu denken, wie viele für mich unsicht­bare Augen­paare ger­ade schon wieder auf mich gerichtet sein mocht­en, und noch viel weniger hat­te ich vor, mich dies­mal ein­fach so zu ergeben! Ich krallte meine Fin­ger in seinen Rück­en, und es war mir dabei egal, ob ich ihm wehtat. Obwohl … Moment. Nein, ich … ich wollte ihm wehtun, oh ja, ich würde ihn zerkratzen bis er blutete, und wenn das nicht reichte, dann würde ich außer­dem beißen, würde ihm so lange wehtun und dabei mit den Füßen vor seinem Gesicht herum zap­peln, bis er mich endlich runter ließ! Ich has­ste ihn! Ja, ich … ich HASSTE IHN, diesen ver­dammten … „… قذر !!!“, ent­fuhr es mir, wobei meine Stimme zwar nur einem schnei­den­den Zis­chen glich, doch in Wahrheit nichts anderes als ein hör­bares, wildes Zäh­ne­fletschen war.

Erschrock­en biss ich mir auf die Unter­lippe, als mir bewusst wurde, was mir da eben über die Lip­pen gekom­men war, und fühlte, wie sich die Schames­röte auf meinen ohne­hin schon sig­nal­rot leuch­t­en­den Wan­gen noch weit­er ver­tiefte. Vergessen waren die Schreck­en, die dort unten im Bunker auf mich lauerten, vergessen die Angst, die Bek­lem­mung, die erdrück­ende Panik, die mir die Luft zum Atmen abgeschnürt hat­te. Jet­zt ger­ade war Chan­dler der Inbe­griff mein­er per­sön­lichen Schmach. Als ich endlich erkan­nte, dass es nur einen Weg gab, wieder aus dieser unendlich beschä­menden Sit­u­a­tion her­auszukom­men, weil ich sowieso nicht gegen seine Kör­perkraft ankam, hörte ich auf, mich gegen ihn zur Wehr zu set­zen und atmete erschöpft durch. Trä­nen bran­nten mir in den Augen und inzwis­chen bran­nten auch meine Lip­pen, weil ich sie mir nahezu wund gebis­sen hat­te, nur, um den ganzen Rest an Beschimp­fun­gen gegen ihn nicht auch noch aus Verse­hen loszuw­er­den. Ich würde diesen Scheißk­erl nie wieder, niemals wieder … — und zwar NIE! — auch nur eines Blick­es würdi­gen, dessen kon­nte er sich sich­er sein, oder ein einziges Wort mit ihm sprechen. Von mir aus kon­nte er sich in Luft auflösen, denn genau das würde er ab sofort für mich sein: Nichts als pure Luft. Und vol­lkom­men unsicht­bar. Luft kon­nte man übri­gens auch nicht hören. Auf jeden Fall musste man ihr nicht zuhören, und deshalb kon­nte er sich aus seinen Anweisun­gen von mir aus ein Krönchen flecht­en. „Lassen Sie mich runter“, flüsterte ich schließlich kraft­los, und mein Puls häm­merte wild, dröh­nte mir in den Ohren. „… bitte.“

( قذر [qaðir] – Mistkerl!)

Basmah: Um keinen Preis!

Ich kon­nte den Blick des Mannes, der mir an dem kleinen Holztisch gegenüber saß, wie eine bren­nende Lunte über meinen Schei­t­el ziehen spüren, während meine Fin­ger eine um die andere Zeile auf dem Schrift­stück ent­lang fuhren, das vor mir lag. Inzwis­chen hat­te ich jeglich­es Zeit­ge­fühl ver­loren — ein Zus­tand, den ich lei­der schreck­lich gut kan­nte und der so typ­isch für diesen Ort ohne Licht und ohne Leben war. Und ich war mir beinah sich­er, dass ich hier unten, meter­tief unter der ahnungslosen Stadt, auch tat­säch­lich nie eine Uhr gese­hen hat­te. Es mochte sich ver­rückt anhören, und vielle­icht war es das auch, aber noch vor weni­gen Wochen hätte ich nahezu alles nur für eine einzige Kon­stante wie das beständi­ge Tick­en ein­er Uhr in der absoluten, zeit­losen Dunkel­heit mein­er Zelle gegeben; ich hätte die Sekun­den gezählt, mich an jedem noch so winzi­gen Beweis dafür fest­geklam­mert, dass die Welt dort draußen sich immer noch drehte. Doch da war nichts gewe­sen, nichts, außer diesen kalten, rohen Beton­wän­den und dem nack­ten Boden, auf dem ich mir die Hände und Knie wund geschürft hat­te, blind vor mich hin tas­tend. Und da war auch kein Geräusch gewe­sen, außer meinem eige­nen keuchen­den Atem, dem wum­mern­den Herz­schlag, meinem heis­eren, trä­nen­losen und unge­hört verklin­gen­den Schluchzen.

Monate … Monate meines Lebens hat­te ich dort in der Fin­ster­n­is der winzi­gen Zelle für immer ver­loren; einges­per­rt, gefan­gen in mir selb­st, jeglich­er Sin­ne­sein­drücke, jeglich­er Beschäf­ti­gungsmöglichkeit beraubt, bis mein Ver­stand nur noch halt­los durch die Leere getrieben war. Und alles, was ich als Wiedergut­machung bekam, stand hier, auf diesen paar dicht beschrifteten Blät­tern Papi­er. Anfangs hat­te ich gebetet, dann ange­fan­gen zu zählen, doch Hunger, Erschöp­fung und die immer größer wer­dende Angst hat­ten mich den Faden ver­lieren, mich zit­ternd in der Ecke kauernd eindösen und schweißüber­strömt, panisch wieder auf­schreck­en lassen.
Minuten, Stun­den, Tage, Wochen — irgend­wann war alles gle­ichbe­deu­tend und … gle­ich bedeu­tungs­los für mich gewor­den. Das Einzige, woran ich mich noch einiger­maßen klar erin­nern kon­nte, waren die Episo­den plöt­zlichen, grell blenden­den Lichts, die schwarz gek­lei­de­ten Män­ner, die mich aus der Zelle und durch dun­kle Flure gez­er­rt hat­ten, die frem­den Stim­men, die vie­len Fra­gen, immer und immer wieder diesel­ben Fra­gen, und dann … der Schmerz. Oh ja, an diese Schmerzen erin­nerte ich mich von allen Din­gen, die mir hier, in diesem unterirdis­chen Bunker wider­fahren waren, am besten. An die Schmerzen und das Blut. Und die Schläge. Das Funkeln von Met­all in dem Licht, das von vorn direkt auf mich gerichtet war und mich blendete, so dass ich mit trä­nen­den Augen kaum Umrisse hat­te erken­nen kön­nen. Umrisse, Schemen. Keine Gesichter. Und Glut. Heiß glühen­des Etwas, in meine Haut gebran­nt. Meine Hand?

Immer noch unbe­wusst schützend lag die Linke zu ein­er lock­eren Faust gekrümmt auf meinem Schoß, während ich mit fest zusam­menge­pressten Lip­pen die Trä­nen weg­blinzelte, die mir wie Säure in den Augen bran­nten. Nein, um keinen Preis der Welt würde ich vor diesen Män­nern noch ein­mal Schwäche zeigen! Ich bemühte mich, den vie­len Text zu lesen; die immer noch unge­wohn­ten west­lichen Schriftze­ichen in einen für mich nachvol­lziehbaren Kon­text zu brin­gen. Mir war bewusst, wie immens wichtig es war, die Aufla­gen und Bedin­gun­gen zu ver­ste­hen, ja, zu verin­ner­lichen, die mir gestellt wur­den. Der Job, der mir ange­boten wurde, die kleine Woh­nung, das Aufen­thalt­srecht — das alles waren Zugeständ­nisse, die nicht annäh­ernd wieder gut­machen kon­nten, was man mir ange­tan hat­te; dass bru­tal und gewis­sen­los gegen Men­schen­rechte ver­stoßen wor­den war. Die für mich erst gal­ten, sobald ich unter­schrieb. Sie waren lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein, die Sicherung von absoluten Grundbedürfnis­sen, damit ich über­haupt eine Chance auf ein eigen­ständi­ges Leben hier im gelobten Land Ameri­ka hat­te. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. So ungerecht es sich auch anfühlte, ich wusste zugle­ich, dass ich kein­er­lei Ansprüche zu stellen hat­te. Man hat­te mir bere­its nur zu deut­lich klar gemacht, dass ich, würde ich mich entschei­den, doch nicht zu unterze­ich­nen, schon mor­gen der Aus­län­der­be­hörde übergeben und bin­nen Wochen­frist zurück nach Pak­istan abgeschoben wer­den würde. Was einem Todesurteil gle­ichkam, nur, dass die Amerikan­er dabei dieses Mal ihre Hände in Unschuld waschen konnten.

Mit klam­men Fin­gern griff ich nach dem Kugelschreiber, der fast schon mah­nend bere­it lag. “Sie kön­nen sich zuhause nochmals alles ganz in Ruhe durch­le­sen, Miss El Sayed”, wieder­holte der Mann mir gegenüber zum gefühlt zehn­ten Mal an diesem Abend, und ver­suchte, dabei immer noch geduldig und beruhi­gend zu klin­gen. Geheimhal­tungspflicht … Schweigepflicht … Wahrheit­spflicht … Uni­formpflicht … Kon­tak­tver­bot zu mein­er Fam­i­lie … Kon­tak­tver­bot nach Pak­istan all­ge­mein … Kon­tak­tver­bot zu islamistisch-ara­bis­chstäm­mi­gen Fam­i­lien und Grup­pierun­gen inner­halb der USA … Ver­bot des Tra­gens und Gebrauchs von Schuss­waf­fen … Pflicht zur Mit­führung der Dien­st­marke … regelmäßige Meldepflicht … regelmäßige psy­chol­o­gis­che Gutacht­en … regelmäßiger Besuch von Eingliederungssem­inaren … Ver­bot von Nebenbeschäf­ti­gun­gen … Die Liste schien kein Ende zu nehmen, und noch hat­te ich sie nicht ein­mal bis zur Hälfte durch. Doch die Erin­nerung an all das, was hier geschehen war — und wom­öglich sog­ar in ein und dem­sel­ben Raum, in dem ich ger­ade saß, schien mit jedem Augen­blick, den ich mir mehr Zeit ließ, nur noch schw­er­er auf mir zu las­ten. Auch wenn ich meine Angst nicht zeigte, so dröh­nte mir doch längst der eigene Herz­schlag in den Ohren und machte es mir immer schw­er­er, mich zu konzen­tri­eren. Ich wollte ein­fach nur noch raus hier, wieder atmen kön­nen, atmen und ren­nen, bis ich den Hor­i­zont erre­ichte! Das Licht schien zu flack­ern, die Wände schienen immer näher zu rück­en … Inner­lich schaud­ernd blät­terte ich bis zur let­zten Seite und set­zte den Stift an, als …

… sich die Tür öffnete. Ich hob den Kopf, als sich schwere Schritte näherten; unwillkür­lich schlug mein Puls einen noch hek­tis­cheren Takt an. Ganz automa­tisch erhob ich mich von meinem Stuhl, trat einen Schritt zur Seite, als ich zwei Män­ner erkan­nte — den einen, der mich aus dem Kranken­haus geholt hat­te — ich glaubte mich daran zu erin­nern, dass jemand ihn Erik genan­nt hat­te — und einen größeren, bre­it­er gebaut­en, den ich noch nie gese­hen hat­te. Ich ver­barg mein Unbe­ha­gen, als der Blick des Großen unver­hohlen an mir ent­lang glitt, machte lediglich noch einen Schritt rück­wärts, so dass ich wenig­stens hin­ter dem Stuhl stand und legte die Hände auf die Lehne, froh, mich daran fes­thal­ten zu kön­nen. “… darf ich Ihnen CLAY vorstellen!” Eriks the­atralis­ch­er Ton­fall gefiel mir nicht, auch wenn ich für den Augen­blick nicht hätte sagen kön­nen, was genau dieses Gefühl in mir aus­löste. Wie hätte ich auch ahnen sollen, welche Lügen sie dem Mann aufgetis­cht hat­ten, dessen graublaue Augen nun so direkt auf mich gerichtet waren? “Das hier ist Clay Chan­dler. Er wird Ihnen die Eingewöh­nungsphase erle­ichtern und Sie natür­lich dabei unter­stützen, die richti­gen Entschei­dun­gen zu tre­f­fen.” Langsam glit­ten meine Fin­ger um die ober­ste Quer­strebe an der Lehne, ball­ten sich meine Hände um das glat­te, lack­ierte Holz. Man … gab mir einen Auf­pass­er? Nur ganz leicht ges­tat­tete ich meinen Augen­brauen, sich zueinan­der zu bewe­gen. Ganz gle­ich, wie blu­mig Erik es auch aus­drück­te, ich ver­stand sehr genau, wovon er da ger­ade sprach. Sie nah­men mir die Luft zum Atmen, noch bevor ich meine ange­blich neu gewonnene Frei­heit über­haupt hat­te kosten kön­nen! Und nun sollte ich mir auch noch von diesem … diesem Frem­den meine Entschei­dun­gen dik­tieren lassen? Unwillkür­lich hat­te sich mein Atem beschle­u­nigt, kämpfte aufwal­len­der Wider­stand gegen die Enge in mein­er Brust, doch ich biss mir so fest auf die Unter­lippe, dass alles Blut daraus wich, nur, um kein Wort der Erwiderung her­vor drin­gen zu lassen.

Und ich hielt dem Blick des großen Mannes stand, ja, hob mein Kinn sog­ar noch etwas mehr an; ich würde keine Furcht zeigen, ganz gle­ich, wie sehr mich die Vorstel­lung aufwühlte, mich in sein­er Nähe aufhal­ten zu müssen, und sei es … doch sicher­lich nur hier, an meinem zukün­fti­gen Arbeit­splatz … und dabei diesen inten­siv­en, exo­tis­chen, durch­drin­gen­den Augen aus­ge­set­zt zu sein.
“مرحب به Shirin Basmah.”

Bei Allah … warum fühlte sich dieses Willkom­men nur so unendlich falsch an? Die Dunkel­heit in sein­er Stimme, kom­biniert mit der nahezu akzent­freien ara­bis­chen Aussprache jagte mir einen Schaud­er das Rück­grat herab; ich öffnete leicht die Lip­pen, als ich meinen Blick von ihm los riss, die Lid­er sittsam über die dun­klen Iri­den senk­te. Allah? Wenn dieser Mann des Ara­bis­chen mächtig war, dann beherrschte er wom­öglich auch die davon abge­wan­del­ten Sprachen aus mein­er Heimat. Würde er also über­prüfen, ob meine Über­set­zun­gen bei den Ver­hören akku­rat waren? Ob ich Fehler machte? Jeman­den unbe­wusst über­vorteilte, etwas falsch inter­pretierte? Mehr denn je fühlte ich mich unter Druck geset­zt, fühlte ich Panik in mir auf­steigen, Panik und Zweifel, ob ich alle­dem wirk­lich gewach­sen war.

“السلام عليكم, Mr. Chan­dler”, erwiderte ich schließlich, das Zit­tern in mein­er Stimme müh­sam unter­drückt, und hoffte, dass er und all diese Män­ner hier es wörtlich nah­men. Friede, das war alles, was ich wollte — Allah sollte mir beis­te­hen, dass mir niemals jemand etwas anderes unter­stellen und ich wieder in diesem dun­klen Loch lan­den würde.
“Miss El Sayed.” Der Mann mir gegenüber, der immer noch auf seinem Stuhl saß, pochte ungeduldig mit dem Zeigefin­ger auf die Tischober­fläche, oder genauer gesagt, auf die Stelle des Papiers, an der immer noch meine Unter­schrift fehlte. “Vergessen Sie nicht zu unter­schreiben.” Wie kön­nte ich. Sehr langsam beugte ich mich nach vorne, mir der Blicke aus drei Augen­paaren sehr wohl bewusst, am meis­ten jedoch des einen, graublauen. Und dann unter­schrieb ich. “Sehr schön.” Selt­sam, es war beinah, als würde ein erle­ichtertes Aufat­men durch die Anwe­senden gehen, als mir der Beamte das Schrift­stück auch schon unter den Fin­gern weg­zog und auf­s­tand. “Nun, Clay, vielle­icht zeigst du Miss El Sayed ja schon ein­mal ihren Wirkungs­bere­ich und weist sie in die wichtig­sten Gepflo­gen­heit­en ein, während ich die Schlüs­sel für die Woh­nung hole”, hörte ich Erik zu meinem Bewach­er sagen. Und dann, an mich gewandt: “Wenn Sie soweit sind, kom­men Sie wieder zu mir. In spätestens ein­er hal­ben Stunde habe ich sämtliche Zugangskarten, Ihre Dien­st­marke, Sozialver­sicherungsnum­mer und diverse weit­ere wichtige Unter­la­gen für Sie. Vielle­icht … nutzen Sie die Zeit auch ein wenig, um sich mit Clay bekan­nt zu machen.” Damit wandten sich Erik und der Beamte um und ver­ließen den Raum, ließen mich allein mit Chan­dler und seinem durch­drin­gen­den Bewacherblick. Ob er mich schon damals beobachtet, meine Schmach mit ange­se­hen hat­te? Oder gar ein­er der Män­ner gewe­sen war, die mir die Haut in Streifen vom Fleisch geschnit­ten, mich versen­gt, gebrand­markt, gedemütigt hat­ten? Ich fühlte mich so unendlich klein unter diesem Blick, klein und elend und nackt. Aber den­noch würde ich ihm stand­hal­ten, würde ihn stolz und unge­brochen erwidern, denn nie­mand, nie­mand würde je wieder die Genug­tu­ung erfahren, Herr über mich zu sein.

 

(مرحب به — [muˈraħħab bihi] — Willkommen)

(السلام عليكم - [as-sala­mu alaikum] — Der Friede sei mit Euch)