Basmah: Um keinen Preis!

Ich kon­nte den Blick des Mannes, der mir an dem kleinen Holztisch gegenüber saß, wie eine bren­nende Lunte über meinen Schei­t­el ziehen spüren, während meine Fin­ger eine um die andere Zeile auf dem Schrift­stück ent­lang fuhren, das vor mir lag. Inzwis­chen hat­te ich jeglich­es Zeit­ge­fühl ver­loren — ein Zus­tand, den ich lei­der schreck­lich gut kan­nte und der so typ­isch für diesen Ort ohne Licht und ohne Leben war. Und ich war mir beinah sich­er, dass ich hier unten, meter­tief unter der ahnungslosen Stadt, auch tat­säch­lich nie eine Uhr gese­hen hat­te. Es mochte sich ver­rückt anhören, und vielle­icht war es das auch, aber noch vor weni­gen Wochen hätte ich nahezu alles nur für eine einzige Kon­stante wie das beständi­ge Tick­en ein­er Uhr in der absoluten, zeit­losen Dunkel­heit mein­er Zelle gegeben; ich hätte die Sekun­den gezählt, mich an jedem noch so winzi­gen Beweis dafür fest­geklam­mert, dass die Welt dort draußen sich immer noch drehte. Doch da war nichts gewe­sen, nichts, außer diesen kalten, rohen Beton­wän­den und dem nack­ten Boden, auf dem ich mir die Hände und Knie wund geschürft hat­te, blind vor mich hin tas­tend. Und da war auch kein Geräusch gewe­sen, außer meinem eige­nen keuchen­den Atem, dem wum­mern­den Herz­schlag, meinem heis­eren, trä­nen­losen und unge­hört verklin­gen­den Schluchzen.

Monate … Monate meines Lebens hat­te ich dort in der Fin­ster­n­is der winzi­gen Zelle für immer ver­loren; einges­per­rt, gefan­gen in mir selb­st, jeglich­er Sin­ne­sein­drücke, jeglich­er Beschäf­ti­gungsmöglichkeit beraubt, bis mein Ver­stand nur noch halt­los durch die Leere getrieben war. Und alles, was ich als Wiedergut­machung bekam, stand hier, auf diesen paar dicht beschrifteten Blät­tern Papi­er. Anfangs hat­te ich gebetet, dann ange­fan­gen zu zählen, doch Hunger, Erschöp­fung und die immer größer wer­dende Angst hat­ten mich den Faden ver­lieren, mich zit­ternd in der Ecke kauernd eindösen und schweißüber­strömt, panisch wieder auf­schreck­en lassen.
Minuten, Stun­den, Tage, Wochen — irgend­wann war alles gle­ichbe­deu­tend und … gle­ich bedeu­tungs­los für mich gewor­den. Das Einzige, woran ich mich noch einiger­maßen klar erin­nern kon­nte, waren die Episo­den plöt­zlichen, grell blenden­den Lichts, die schwarz gek­lei­de­ten Män­ner, die mich aus der Zelle und durch dun­kle Flure gez­er­rt hat­ten, die frem­den Stim­men, die vie­len Fra­gen, immer und immer wieder diesel­ben Fra­gen, und dann … der Schmerz. Oh ja, an diese Schmerzen erin­nerte ich mich von allen Din­gen, die mir hier, in diesem unterirdis­chen Bunker wider­fahren waren, am besten. An die Schmerzen und das Blut. Und die Schläge. Das Funkeln von Met­all in dem Licht, das von vorn direkt auf mich gerichtet war und mich blendete, so dass ich mit trä­nen­den Augen kaum Umrisse hat­te erken­nen kön­nen. Umrisse, Schemen. Keine Gesichter. Und Glut. Heiß glühen­des Etwas, in meine Haut gebran­nt. Meine Hand?

Immer noch unbe­wusst schützend lag die Linke zu ein­er lock­eren Faust gekrümmt auf meinem Schoß, während ich mit fest zusam­menge­pressten Lip­pen die Trä­nen weg­blinzelte, die mir wie Säure in den Augen bran­nten. Nein, um keinen Preis der Welt würde ich vor diesen Män­nern noch ein­mal Schwäche zeigen! Ich bemühte mich, den vie­len Text zu lesen; die immer noch unge­wohn­ten west­lichen Schriftze­ichen in einen für mich nachvol­lziehbaren Kon­text zu brin­gen. Mir war bewusst, wie immens wichtig es war, die Aufla­gen und Bedin­gun­gen zu ver­ste­hen, ja, zu verin­ner­lichen, die mir gestellt wur­den. Der Job, der mir ange­boten wurde, die kleine Woh­nung, das Aufen­thalt­srecht — das alles waren Zugeständ­nisse, die nicht annäh­ernd wieder gut­machen kon­nten, was man mir ange­tan hat­te; dass bru­tal und gewis­sen­los gegen Men­schen­rechte ver­stoßen wor­den war. Die für mich erst gal­ten, sobald ich unter­schrieb. Sie waren lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein, die Sicherung von absoluten Grundbedürfnis­sen, damit ich über­haupt eine Chance auf ein eigen­ständi­ges Leben hier im gelobten Land Ameri­ka hat­te. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. So ungerecht es sich auch anfühlte, ich wusste zugle­ich, dass ich kein­er­lei Ansprüche zu stellen hat­te. Man hat­te mir bere­its nur zu deut­lich klar gemacht, dass ich, würde ich mich entschei­den, doch nicht zu unterze­ich­nen, schon mor­gen der Aus­län­der­be­hörde übergeben und bin­nen Wochen­frist zurück nach Pak­istan abgeschoben wer­den würde. Was einem Todesurteil gle­ichkam, nur, dass die Amerikan­er dabei dieses Mal ihre Hände in Unschuld waschen konnten.

Mit klam­men Fin­gern griff ich nach dem Kugelschreiber, der fast schon mah­nend bere­it lag. “Sie kön­nen sich zuhause nochmals alles ganz in Ruhe durch­le­sen, Miss El Sayed”, wieder­holte der Mann mir gegenüber zum gefühlt zehn­ten Mal an diesem Abend, und ver­suchte, dabei immer noch geduldig und beruhi­gend zu klin­gen. Geheimhal­tungspflicht … Schweigepflicht … Wahrheit­spflicht … Uni­formpflicht … Kon­tak­tver­bot zu mein­er Fam­i­lie … Kon­tak­tver­bot nach Pak­istan all­ge­mein … Kon­tak­tver­bot zu islamistisch-ara­bis­chstäm­mi­gen Fam­i­lien und Grup­pierun­gen inner­halb der USA … Ver­bot des Tra­gens und Gebrauchs von Schuss­waf­fen … Pflicht zur Mit­führung der Dien­st­marke … regelmäßige Meldepflicht … regelmäßige psy­chol­o­gis­che Gutacht­en … regelmäßiger Besuch von Eingliederungssem­inaren … Ver­bot von Nebenbeschäf­ti­gun­gen … Die Liste schien kein Ende zu nehmen, und noch hat­te ich sie nicht ein­mal bis zur Hälfte durch. Doch die Erin­nerung an all das, was hier geschehen war — und wom­öglich sog­ar in ein und dem­sel­ben Raum, in dem ich ger­ade saß, schien mit jedem Augen­blick, den ich mir mehr Zeit ließ, nur noch schw­er­er auf mir zu las­ten. Auch wenn ich meine Angst nicht zeigte, so dröh­nte mir doch längst der eigene Herz­schlag in den Ohren und machte es mir immer schw­er­er, mich zu konzen­tri­eren. Ich wollte ein­fach nur noch raus hier, wieder atmen kön­nen, atmen und ren­nen, bis ich den Hor­i­zont erre­ichte! Das Licht schien zu flack­ern, die Wände schienen immer näher zu rück­en … Inner­lich schaud­ernd blät­terte ich bis zur let­zten Seite und set­zte den Stift an, als …

… sich die Tür öffnete. Ich hob den Kopf, als sich schwere Schritte näherten; unwillkür­lich schlug mein Puls einen noch hek­tis­cheren Takt an. Ganz automa­tisch erhob ich mich von meinem Stuhl, trat einen Schritt zur Seite, als ich zwei Män­ner erkan­nte — den einen, der mich aus dem Kranken­haus geholt hat­te — ich glaubte mich daran zu erin­nern, dass jemand ihn Erik genan­nt hat­te — und einen größeren, bre­it­er gebaut­en, den ich noch nie gese­hen hat­te. Ich ver­barg mein Unbe­ha­gen, als der Blick des Großen unver­hohlen an mir ent­lang glitt, machte lediglich noch einen Schritt rück­wärts, so dass ich wenig­stens hin­ter dem Stuhl stand und legte die Hände auf die Lehne, froh, mich daran fes­thal­ten zu kön­nen. “… darf ich Ihnen CLAY vorstellen!” Eriks the­atralis­ch­er Ton­fall gefiel mir nicht, auch wenn ich für den Augen­blick nicht hätte sagen kön­nen, was genau dieses Gefühl in mir aus­löste. Wie hätte ich auch ahnen sollen, welche Lügen sie dem Mann aufgetis­cht hat­ten, dessen graublaue Augen nun so direkt auf mich gerichtet waren? “Das hier ist Clay Chan­dler. Er wird Ihnen die Eingewöh­nungsphase erle­ichtern und Sie natür­lich dabei unter­stützen, die richti­gen Entschei­dun­gen zu tre­f­fen.” Langsam glit­ten meine Fin­ger um die ober­ste Quer­strebe an der Lehne, ball­ten sich meine Hände um das glat­te, lack­ierte Holz. Man … gab mir einen Auf­pass­er? Nur ganz leicht ges­tat­tete ich meinen Augen­brauen, sich zueinan­der zu bewe­gen. Ganz gle­ich, wie blu­mig Erik es auch aus­drück­te, ich ver­stand sehr genau, wovon er da ger­ade sprach. Sie nah­men mir die Luft zum Atmen, noch bevor ich meine ange­blich neu gewonnene Frei­heit über­haupt hat­te kosten kön­nen! Und nun sollte ich mir auch noch von diesem … diesem Frem­den meine Entschei­dun­gen dik­tieren lassen? Unwillkür­lich hat­te sich mein Atem beschle­u­nigt, kämpfte aufwal­len­der Wider­stand gegen die Enge in mein­er Brust, doch ich biss mir so fest auf die Unter­lippe, dass alles Blut daraus wich, nur, um kein Wort der Erwiderung her­vor drin­gen zu lassen.

Und ich hielt dem Blick des großen Mannes stand, ja, hob mein Kinn sog­ar noch etwas mehr an; ich würde keine Furcht zeigen, ganz gle­ich, wie sehr mich die Vorstel­lung aufwühlte, mich in sein­er Nähe aufhal­ten zu müssen, und sei es … doch sicher­lich nur hier, an meinem zukün­fti­gen Arbeit­splatz … und dabei diesen inten­siv­en, exo­tis­chen, durch­drin­gen­den Augen aus­ge­set­zt zu sein.
“مرحب به Shirin Basmah.”

Bei Allah … warum fühlte sich dieses Willkom­men nur so unendlich falsch an? Die Dunkel­heit in sein­er Stimme, kom­biniert mit der nahezu akzent­freien ara­bis­chen Aussprache jagte mir einen Schaud­er das Rück­grat herab; ich öffnete leicht die Lip­pen, als ich meinen Blick von ihm los riss, die Lid­er sittsam über die dun­klen Iri­den senk­te. Allah? Wenn dieser Mann des Ara­bis­chen mächtig war, dann beherrschte er wom­öglich auch die davon abge­wan­del­ten Sprachen aus mein­er Heimat. Würde er also über­prüfen, ob meine Über­set­zun­gen bei den Ver­hören akku­rat waren? Ob ich Fehler machte? Jeman­den unbe­wusst über­vorteilte, etwas falsch inter­pretierte? Mehr denn je fühlte ich mich unter Druck geset­zt, fühlte ich Panik in mir auf­steigen, Panik und Zweifel, ob ich alle­dem wirk­lich gewach­sen war.

“السلام عليكم, Mr. Chan­dler”, erwiderte ich schließlich, das Zit­tern in mein­er Stimme müh­sam unter­drückt, und hoffte, dass er und all diese Män­ner hier es wörtlich nah­men. Friede, das war alles, was ich wollte — Allah sollte mir beis­te­hen, dass mir niemals jemand etwas anderes unter­stellen und ich wieder in diesem dun­klen Loch lan­den würde.
“Miss El Sayed.” Der Mann mir gegenüber, der immer noch auf seinem Stuhl saß, pochte ungeduldig mit dem Zeigefin­ger auf die Tischober­fläche, oder genauer gesagt, auf die Stelle des Papiers, an der immer noch meine Unter­schrift fehlte. “Vergessen Sie nicht zu unter­schreiben.” Wie kön­nte ich. Sehr langsam beugte ich mich nach vorne, mir der Blicke aus drei Augen­paaren sehr wohl bewusst, am meis­ten jedoch des einen, graublauen. Und dann unter­schrieb ich. “Sehr schön.” Selt­sam, es war beinah, als würde ein erle­ichtertes Aufat­men durch die Anwe­senden gehen, als mir der Beamte das Schrift­stück auch schon unter den Fin­gern weg­zog und auf­s­tand. “Nun, Clay, vielle­icht zeigst du Miss El Sayed ja schon ein­mal ihren Wirkungs­bere­ich und weist sie in die wichtig­sten Gepflo­gen­heit­en ein, während ich die Schlüs­sel für die Woh­nung hole”, hörte ich Erik zu meinem Bewach­er sagen. Und dann, an mich gewandt: “Wenn Sie soweit sind, kom­men Sie wieder zu mir. In spätestens ein­er hal­ben Stunde habe ich sämtliche Zugangskarten, Ihre Dien­st­marke, Sozialver­sicherungsnum­mer und diverse weit­ere wichtige Unter­la­gen für Sie. Vielle­icht … nutzen Sie die Zeit auch ein wenig, um sich mit Clay bekan­nt zu machen.” Damit wandten sich Erik und der Beamte um und ver­ließen den Raum, ließen mich allein mit Chan­dler und seinem durch­drin­gen­den Bewacherblick. Ob er mich schon damals beobachtet, meine Schmach mit ange­se­hen hat­te? Oder gar ein­er der Män­ner gewe­sen war, die mir die Haut in Streifen vom Fleisch geschnit­ten, mich versen­gt, gebrand­markt, gedemütigt hat­ten? Ich fühlte mich so unendlich klein unter diesem Blick, klein und elend und nackt. Aber den­noch würde ich ihm stand­hal­ten, würde ihn stolz und unge­brochen erwidern, denn nie­mand, nie­mand würde je wieder die Genug­tu­ung erfahren, Herr über mich zu sein.

 

(مرحب به — [muˈraħħab bihi] — Willkommen)

(السلام عليكم - [as-sala­mu alaikum] — Der Friede sei mit Euch)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert