Ethan & Tamsyn: Lüge!

Die Kopf­schmerzen set­zten wie das Amen im Gebet ein, ich blieb am Wal­drand zurück, presste zwei Fin­ger gegen die häm­mernde Stirn. Scheiße! Nur langsam däm­merte mir, was ich da eigentlich ger­ade zu hören bekom­men hat­te — diese Frau war eine eiskalte Mörderin! Und ich … hat­te natür­lich nichts besseres zu tun, als sie zu trösten, ja, ihr sog­ar meine Hil­fe bei weiß Gott was anzu­bi­eten. Jet­zt hing ich mit­ten in der Scheiße mit drin, drauf und dran, mich zum Mit­täter zu machen.  Und das alles nur, weil ich Frauen nicht weinen sehen kon­nte. Noahs uner­warteter Auftritt musste mir gehörig den Ver­stand vernebelt haben!

Ich blick­te auf, als Tamys Stimme vom Haus her erk­lang. Diese Nacht? Diese eine Nacht? Ver­dammt, diese eine Stunde mit ihr war schon zu viel gewe­sen, ich … Eigentlich wollte ich das alles gar nicht wis­sen! Ich ver­fluchte mich inner­lich für das, was ich ange­fan­gen hat­te und jet­zt würde ich einiges darum geben, ich hätte es nicht getan. Sie gehörte ganz ein­deutig hin­ter Git­ter, nicht hier­her … Warum zum Teufel war sie über­haupt noch auf freiem Fuß? Selb­st aus der Ferne kon­nte ich das leuch­t­ende Türk­is­blau ihrer Augen erken­nen, das vom Weinen gerötete, so beza­ubernd schöne Gesicht. Mein Gott … Sah so eine Frau aus, die ihren Gefährten kalt­blütig ermordet hat­te? Und war ich wirk­lich so bescheuert, allein dieses Anblicks und des herz­er­we­ichen­den Fle­hens in ihrer Stimme wegen darüber nachzu­denken, ein sehr viel stärk­eres Echo zu riskieren? Ein­mal ganz davon abge­se­hen, dass ich mich ger­ade selb­st schon wie ein ver­dammter Ver­brech­er fühlte, nur weil ich jet­zt wusste, was ich wusste.

Scheiße nochmal, das hier war ein­deutig zu heiß für mich. Ich musste die Fin­ger davon lassen! “Diese eine Nacht”, hörte ich mich sagen, als ich mich mit wum­mern­dem Schädel in Bewe­gung set­zte, um ihr ins Haus zu fol­gen. “Und nur diese eine.” Denn mor­gen würde ich per­sön­lich dafür sor­gen, dass sie sich für das, was sie getan hat­te, stellte.

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Mehr brauche ich nicht, dachte ich in dem Moment, als Ethan mir antwortete und ins Haus folgte.

Nur diese eine Nacht …  Lüge! Ich bel­og mich selb­st in dem ich mir einzure­den ver­suchte, diese eine Nacht würde reichen. Das würde es nicht. Niemals wieder würde eine Nacht reichen.

Ich ahnte nichts von seinen Gefühlen und Gedanken. Ver­schwen­dete keine Sekunde daran, dass es  zu viel für ihn sein kön­nte. ICH zu viel für ihn sein kön­nte. Vielle­icht war ich ego­is­tisch, aber …  hat­te ich nicht auch ein Recht darauf ein­mal zur Ruhe zu kom­men? Nur ein einziges Mal noch, bevor die Ver­gan­gen­heit mich im Hier und Jet­zt ein­holte? Wusste irgend­je­mand, wie es sich anfühlte, die Flut näher kom­men zu sehen?  Unfähig sich zu bewe­gen; zu wis­sen, dass man gle­ich ertrinken würde. Jeden Moment ertrinken würde … Ich! Die Frau, die ihr ganzes Leben für das Wohl ander­er gekämpft, die den hip­pokratis­chen Eid geleis­tet und nie etwas mehr in ihrem Leben angestrebt hat­te, als Gerechtigkeit. ICH habe meinen Gefährten erschossen. „NEIN … es war … ein Unfall!“, rief ich meinen Gedanken laut aus, ohne mir dessen bewusst zu sein und stützte mich schw­er atmend an der Hauswand ab. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn, während mein Atem nur noch stoßweise ging. Es war wieder mal so weit. Meine Dämo­nen hat­ten mich einge­holt. Wie jede Nacht. Immer zur gle­ichen Zeit. Die Sicht ver­schwamm vor meinen Augen. Alles, was ich jet­zt noch erken­nen kon­nte, war das Gesicht meines Gefährten. Seine vor Über­raschung und Schmerz geweit­eten Augen. Dieser Blick … Niemals werde ich diesen let­zten Blick wieder aus meinen Erin­nerun­gen ver­ban­nen kön­nen. „Es … war ein Unfall …“, ver­suchte ich mir selb­st einzure­den. „Ein … Unfall!“, stam­melte ich und rutschte langsam an der Wand nach unten. Auf dem Boden kniend, grub ich meine Fin­ger fest in den gefrore­nen Unter­grund. Ver­suchte mich zu erden. Halt zu find­en. „Hilf mir … bitte … Mach, dass es aufhört!“, fle­hte ich Ethan an. „Nur diese eine Nacht. Versprochen.“

Lüge…,  flüsterte die Stimme in meinem Kopf …

Lüge…  Du bist eine Lügner­in … Eine Ver­rä­terin …  Eine Mörderin …

[Textab­schnitt © Nicol Stolze @ Tam­syn Matthew]

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Wenig­stens hat­te ich doch noch recht schnell ger­afft, dass das Ganze hier ein­deutig eine Num­mer zu groß für mich war. Und genau deshalb würde ich mich schön sauber wieder aus der Affäre ziehen … spätestens bei Son­nenauf­gang. Das einzig Richtige tun. Wenn Sie glaubte, ich würde ein­fach die Klappe hal­ten; dass sie mich zum Kom­plizen machen kon­nte, dann hat­te sich die Kleine ganz schön geschnit­ten, soviel war klar! Ja, vielle­icht hätte sie mir diese ganze Sache nicht unbe­d­ingt erzählt, hätte ich nicht auf meine gedanken­los char­mante Art ein biss­chen nachge­holfen. Aber sollte ich deshalb nun etwa ein schlecht­es Gewis­sen haben? Wie zum Henker hat­te ich denn ahnen kön­nen, WAS da hin­ter der makel­los schö­nen Fas­sade steck­te, hin­ter diesen Augen …

Ein Unfall … Mein Gott, ich wurde die gedankliche Vorstel­lung in meinem Kopf nicht mehr los — sie hat­te eiskalt auf ihn angelegt, hat­te abge­drückt, wieder und wieder und wieder …  Meine Schritte beschle­u­nigten sich von selb­st, als ich sie verzweifelt an der Haus­mauer zusam­mensinken sah. Ich kon­nte mir das ein­fach nicht mit anse­hen! Vielle­icht war doch etwas Wahres dran, vielle­icht …  Zum Teufel, ich wollte ihr diese eine Nacht geben. Was war auch schon eine einzelne Nacht? Gar nichts. Und wenn es ihr diese paar Stun­den lang Erle­ichterung ver­schaffte, dann war es doch irgend­wie auch eine gute Tat, oder? Lüge …, flüsterte etwas in meinen Gedanken, das ich schnell wieder ver­drängte, während ich mich zu ihr hin­unter beugte, sie san­ft hoch und schließlich auf meine Arme zog. Lügn­er. Warm drück­te ich das zit­ternde Bün­del an meine Brust, als ich sie ins Haus zurück trug.

Sean: So finster die Nacht …

Ich hielt mich schon den ganzen Abend im Hin­ter­grund und war darauf bedacht, Cath möglichst viel Freiraum zu lassen. Wenn sie etwas brauchte, musste sie mich nur fra­gen und anson­sten ver­hielt ich mich schweigsam; saß auf einem Stuhl in ein­er unbeleuchteten Ecke, blät­terte in der aktuellen Aus­gabe des Forbes Mag­a­zine, eine schwere Beretta griff­bere­it im Brusthol­ster und warf ab und zu einen Blick auf die sich schlaf­los hin und her wälzende Frau im Bett neben mir. Die Tat­sache, dass ich mich auf Kalebs Anweisung hin die ganze Zeit in ihrem pri­vat­en Wohn­bere­ich aufhielt, um stets in ihrer Nähe zu sein, sollte möglichst nicht zu ein­er zusät­zlichen Belas­tung für sie wer­den. Ich sah ihr nur zu deut­lich an, wie sehr die Schwanger­schaft an ihr zehrte; die dun­kler wer­den­den Augen­ringe, der müde Blick und die fahle Farbe ihrer Haut sprachen in let­zter Zeit für sich. Es schmerzte mich, sie so zu sehen — und nicht nur ein­mal hat­te ich mich gefragt, ob ihr Kör­p­er zwei so der­maßen beschle­u­nigte Schwanger­schaften inner­halb kurz­er Zeit über­haupt verkraften konnte.

Mein Blick fol­gte ihr besorgt, als sie schließlich aus dem Bett glitt und unruhig durch den Raum ging; das aufgeschla­gene Heft auf meinem Schoß war vorüberge­hend vergessen. Doch Cath war eine aus­ge­sprochen starke Frau, die bish­er alle Her­aus­forderun­gen gemeis­tert hat­te. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hätte sie auch die Geburt von Kalebs Sohn über­standen und kon­nte wieder zu Kräften kom­men. Sog­ar jet­zt, in diesem geschwächt­en und hochschwan­geren Zus­tand, war sie wun­der­schön; ich kon­nte mir nicht vorstellen, dass es eine zweite Frau auf dieser Welt gab, die ihren Kugel­bauch auch nur annäh­ernd so anmutig vor sich her trug wie sie. Wie so oft ruhte mein Blick auf ihrer schmalen Sil­hou­ette, als sie reg­los und mit dem Rück­en zu mir am Fen­ster stand, san­ft beschienen von den vielfälti­gen Lichtern der Nacht, die draußen über Boston lag. Dort, wo ihre warme Hand das Fen­ster berührte, beschlug es leicht und zeich­nete so die Kon­turen ihrer viel zu knochi­gen Fin­ger auf das Glas. Ich kon­nte ihre wach­sende Anspan­nung beinah fühlen; nahezu greif­bar schwebte sie in der nächtlichen Stille des Schlafz­im­mers. Und da war noch mehr; so vieles, was ich mit meinen vam­pirischen Sin­nen wahrnahm, wenn ich es nur zuließ. Ihr schwach­er, würziger Duft, der aufgewühlte Herz­schlag; Atemzug um Atemzug, jed­er davon fast ein wenig müh­sam. “Wenn du hier bist … wer achtet dann da draußen auf meinen Gefährten, Sean …”, durch­brach Caths Stimme das Schweigen, und ich run­zelte besorgt die Stirn.

Bere­its seit Tagen ver­suchte ich, möglichst viel Gelassen­heit auszus­trahlen; ihr keinen auch nur gerin­gen Anlass zur Sorge zu geben. Sie war hochschwanger und völ­lig erschöpft; jede Aufre­gung wäre pures Gift für sie und das unge­borene Kind. Aber das änderte alles nichts daran, dass ich ihr ins­ge­heim zus­tim­men musste. Ich wusste, dass Kaleb im Augen­blick an etwas sehr Großem dran war, etwas das, wenn heute Nacht alles gut ging, dem Orden einen ersten schw­eren Schlag mit­ten in die Weichteile ver­set­zen würde. Wir hat­ten schließlich lange genug darauf hingear­beit­et. Und dass ich hier war, anstatt mit ihm dort draußen zu sein; dass ich seine Gefährtin bewachte, hier, in einem Gebäude, das mit der aus­gek­lügelt­sten Sicher­heit­stech­nik in weit­em Umkreis aus­ges­tat­tet und somit jedem Hochsicher­heits­ge­fäng­nis weit über­legen war, gren­zte gewis­ser­maßen an Para­noia. Und doch … An Kalebs Stelle hätte ich ver­mut­lich auch nicht anders gehan­delt. Ich erhob mich, legte die Zeitschrift bei­seite und trat zu Cath. Meine Hand legte sich warm auf ihre Schul­ter und ich begeg­nete dem Blick ihres Spiegel­bilds in der weitläu­fi­gen Glas­fläche vor uns. “Mach dir keine Sor­gen, Cath. Er hat seine besten Män­ner dabei, und er weiß sehr genau, was er tut.”

Ich trat zwei Schritte zurück, als sie sich zu mir umwandte; begeg­nete ihr mit einem zuver­sichtlichen Lächeln. Mein Gott, aus der Nähe erkan­nte ich erst, wie müde sie wirk­lich war. Kaleb sollte bess­er schon recht bald wieder zurück sein; sie brauchte sein Blut genau­so sehr wie seine Anwe­sen­heit, damit sie endlich für ein Weilchen zur Ruhe kam. Ich presste die Lip­pen aufeinan­der, während meine Aufmerk­samkeit über die aschfahlen Züge der Frau vor mir glitt. Es war nicht das erste Mal, dass ich mir inständig wün­schte, ihr bei­des geben zu kön­nen. “Was hat er dir gesagt, wo er heute Nacht ist?” — Ich wich ihrem Blick aus, als sie näher kam und schüt­telte langsam den Kopf. “Bitte, Cath, tu dir das nicht an.” Doch sie ließ nicht lock­er. Natür­lich wusste ich, wo er war — und ich wusste auch ganz genau, was er vorhat­te. Vor allen Din­gen aber war mir klar, mit wem er sich anlegte, und genau das war es, was meine sorgsam zur Schau gestellte Gelassen­heit Lügen strafte. Ich sollte bei ihm sein. Aber gle­ichzeit­ig wollte ich auch nichts so sehr, wie hier bei Cath zu sein. Jemand musste schließlich auf sie acht­en, auch wenn es unwahrschein­lich war, dass sie hier im Tow­er in Gefahr geri­et. Aber genau­so gut kon­nte sie plöt­zlich die Wehen bekom­men oder es kon­nte etwas mit dem Kind sein — oder aber sie brach endgültig unter der Erschöp­fung zusam­men, die sie so grausam zeich­nete. Jemand musste sie auf­fan­gen, und dieser Jemand würde ich sein, solange Kaleb nicht in der Nähe war. “Er ist auf ein­er … etwas heiklen Mis­sion”, antwortete ich auswe­ichend, aber so weit es ging, wahrheits­gemäß. Genau­so wenig, wie ich mein Ver­sprechen Kaleb gegenüber brechen wollte, wollte ich Cath ins Gesicht lügen müssen. “Aber wie gesagt, du musst dich nicht sor­gen. Es ist alles von langer Hand geplant und vor­bere­it­et. Er wird sich nicht mehr als unbe­d­ingt nötig in Gefahr begeben, schon allein, weil er weiß, dass du und sein unge­borenes Kind hier auf ihn wartet. Du kennst ihn doch — Kaleb über­lässt nie irgend­was dem Zufall.”

Ver­mut­lich redete ich mit diesen Worten eher mir selb­st ein, dass es keinen Grund zur Beun­ruhi­gung gab, aber hier und jet­zt war ein­fach auch über­haupt kein Platz dafür, meine eigene innere Unrast nach außen drin­gen zu lassen. Alles, was Cath brauchte, war Ruhe und ein sicheres, sta­biles Umfeld. Ich legte behut­sam eine Hand zwis­chen ihre Schul­terblät­ter, um sie mit san­fter Bes­timmtheit zurück zum Bett zu führen. “Komm, Cath … setz dich doch wenig­stens. Du siehst müde aus. Und hör auf, dich mit solchen Gedanken zu quälen. Kaleb ist doch bish­er immer zu dir zurück­gekehrt, warum sollte es aus­gerech­net heute anders sein?”