Er sieht zu mir herüber. Immer wieder sieht er mich an und es gefällt mir, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenken kann. Er ist unkonzentriert, hört dem Mann kaum zu, der gerade mit ihm spricht. Ich halte seinem Blick einen Moment lang stand, dann schlage ich die Augen nieder. Ich weiß, dass er mich noch immer ansieht, ich kann es fühlen. Ich schiebe die Beine ein wenig auseinander, bis mein Rock sich über den Oberschenkeln spannt und falte die Hände in meinem Schoß. Meine Füße trommeln sacht gegen ein Bein des Tisches, auf dem ich sitze. Er geht dicht an mir vorbei und gibt vor, keinerlei Notiz von mir zu nehmen. Aber ich weiß es besser. Er interessiert sich im Moment für keine der anderen und außer ihm interessiert sich niemand für mich. Ich lege den Kopf in den Nacken, drücke den Oberkörper durch und löse das Band aus meinem Haar. Langsam fasse ich es wieder zusammen, bändige die dunklen Strähnen zu einem neuen Zopf. Plötzlich kommt er direkt auf mich zu. Ich sehe ihn an, warte, bis sich unsere Blicke wieder treffen. Er sieht ärgerlich aus, fast so, als wollte er mich jetzt schlagen. Mein Magen zieht sich zusammen, mein Herz rast vom Adrenalin. Ich bin süchtig nach diesem Spiel, es ist aufregender als alles andere, was ich kenne. Heute spiele ich es nicht zum ersten Mal; es ist wie ein kleines Geheimnis zwischen uns beiden, zwischen mir und ihm. Aber ich habe noch nie so lange gewartet wie heute, ehe ich geflüchtet bin. Kurz bevor er mich erreicht, springe ich auf und laufe lachend zu meinen Freundinnen. Ich kann seinen Blick im Rücken spüren, als er mir nachsieht. Und noch etwas anderes, etwas, von dem mir die anderen Mädchen nichts gesagt haben. Es ist wie ein Prickeln im Nacken; ich kann seine Erregung fast körperlich spüren, wenn er mir so nah kommt. Sie füllt mich mit einer sonderbaren Kraft, so als würden Funken zwischen meinen Fingerspitzen tanzen.
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Tiefe Schatten liegen zwischen den Bäumen; ich kann kaum noch die Hand vor Augen sehen, aber ich fürchte mich nicht. Es ist eine kleine Mutprobe, mit der die Jungs uns Mädchen am Rande des Dorffestes aufziehen wollen. Der kleine Korb baumelt locker in meiner Hand, ich springe leichtfüßig den schmalen Pfad entlang, den ich auch ohne das Tageslicht gut genug kenne, um mich nicht zu verlaufen. Unweit vor mir glüht etwas Kleines still in der Dunkelheit auf und als ich den Atem anhalte, kann ich das leise Surren des Flügelschlags hören. Ich muss nur eines dieser Sommer-Irrlichter einfangen, dann habe ich den Test bestanden und es den Jungs endgültig gezeigt. Aus der Ferne höre ich Gelächter herüber schwappen, es ist schon spät in der Nacht und die meisten Dorfbewohner sind betrunken. Plötzlich vernehme ich Schritte hinter mir; kleine Kiesel knirschen unter schwerem Gang. Ich gehe schneller, tiefer in den Wald hinein und das kleine Irrlicht erlischt erschrocken, als ich in dessen Nähe komme. Die Schritte nähern sich, auch sie sind schneller geworden. Ich höre meinen eigenen Herzschlag trommeln. Ich habe nun doch Angst. Aber dann bleibe ich stehen, drehe mich ganz plötzlich um, rechne damit, dass einer der Jungs sich einen Scherz mit mir erlaubt, um mir die Aufgabe zu erschweren. Ich werd’s ihm zeigen! Aber es ist keiner meiner Freunde; der weitaus ältere Mann, dem ich mich gegenüber finde, hat diese hungrigen Augen. Ich kenne sie, und auch diesmal erwidere ich seinen Blick, fast ein wenig erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Aber jetzt fühlt es sich vollkommen anders an. Er kommt näher, schwankt dabei. Er scheint betrunken zu sein. Ich senke den Blick und weiche ihm aus, will an ihm vorbei, zurück ins Dorf. Ich will ihn heute lieber nicht reizen, er sieht so schon ziemlich gefährlich aus, wie ein Raubtier auf der Jagd. Immer noch spricht keiner von uns ein Wort. Fast bin ich an ihm vorbei, da packt er mich an der Taille. Ich lasse den Korb fallen, versuche mich seinem Griff zu entziehen. Sein Atem riecht nach billigem Schnaps, ich kann ihn keuchen hören. Meine Kehle ist wie zugeschnürt; ich bringe keinen Ton hervor, und als ich endlich schreien will, hat er mich längst zu Boden geworfen und presst mir seine Hand auf den Mund, dass mir die Luft wegbleibt. Stunden später ergießt sich die aufgehende Sonne über meine nackte Haut. Heißes Blut benetzt meine Schenkel und ein wütender Schmerz tobt in meinem Unterleib. Mein Kleid ist zerrissen, das Haarband verloren, die Fingernägel abgebrochen und die Kehle wund. Ich möchte nichts mehr fühlen, nie wieder.
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Sechs Monate später kann ich die Wölbung meines Bauches kaum noch verbergen. Ich trage die weiten Kleider meiner Mutter; sie weiß es und hilft mir. Aber ich spreche nicht mit ihr darüber, nenne ihr nicht den Namen des Mannes, der Vater dieses Kindes ist. Ich spreche mit niemandem darüber und habe mir geschworen, es nie zu tun. Immer noch schrubbe ich mir jeden Morgen und Abend den Dreck von der Haut, bis sie rot und aufgerieben ist. Ich fühle mich so beschmutzt, und diese vielen Blicke, die mich verfolgen, ich kann mich nicht vor ihnen verstecken. Ich weiß, dass sie es wissen, jeder kann den Dreck sehen, der an mir klebt. Warum sonst sollten sie mich so anstarren? Sie wissen es, aber sie schweigen, so wie ich auch. Ich hasse dieses Ding, das in meinem Bauch heranwächst. Vor ein paar Wochen wollte ich es loswerden, mit einem Stein habe ich auf es eingeschlagen und gehofft, dass sein Herz stehenbleibt. Es soll tot sein, wenn es geboren wird. Ich weiß, dass es seine Augen hat, und ich will sie niemals wieder sehen. Es ist auch so nicht einfach, ihm ständig aus dem Weg zu gehen, er ist im Dorf so präsent. Jeder kennt ihn, jeder spricht von ihm. Und doch schweigen sie alle, so wie ich auch. Ich muss fortgehen, fort von hier. Mutter wird mir helfen. Ich ertrage diese vielen Blicke nicht mehr, und schon bald wird man neben dem Schmutz auch noch den dicken Bauch sehen. Wir gehen in die Wildnis, dorthin, wo die Tiere die Nachgeburt fressen. Mutter wird dafür sorgen, dass ich dieses Ding, das aus mir herauskommt, niemals lieben muss. Ich will es nicht. Ich hasse es!
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Er hält mir eine Kette hin; der große, rote Stein, der vor meinem Gesicht hin und her schwingt, funkelt in der Sonne und zieht meinen Blick wie magisch an. Der Klunker muss ein Vermögen wert sein! Ich hebe den Kopf, sehe zu dem Mann auf, der vor mir steht. Er trägt feine Kleidung; seine polierten Schuhe glänzen fast so schön, wie der rote Stein. Ein lichter Haarkranz umgibt seine Halbglatze; sie sind zum größten Teil schon grau geworden. Er lächelt mich an; in seinen hellen Augen liegt dieser dunkle, hungrige Blick. Der Mann ist gut genährt und trägt so etwas wie einen gebogenen Degen an seinem Gürtel. Ich kann spüren, wie das Metall seines Eherings über meine Haut gleitet, als er mit seiner dicken Hand über mein Knie streicht. Kühl und glatt. Ich schiebe wie zufällig eine Hand unter meinen Rocksaum, reibe mit dem Daumen über meinen Schenkel, als würde ich mich dort kratzen, gedankenlos, den Blick nun wieder auf den kostbaren Stein geheftet. Ich weiß genau, was der Mann von mir will und ich kann seine Erregung spüren. Sie füllt mich mit einer eigenartigen Macht, fast so als würde ich sie trinken, doch das ändert nichts an dem schmerzhaften Kloß, der sich in meinem Magen zusammengeballt hat. Es wäre so einfach – ich müsste es nur irgendwie hinter mich bringen und die Kette würde mir gehören. Noch nie habe ich etwas so Wertvolles besessen. Ich könnte sie eintauschen, gegen mehr Brot, als ich überhaupt tragen kann, und Körbe voll von diesen wunderbaren süßen Beeren. Mein Herz schlägt schnell, ich spüre, wie die Angst in mir aufsteigt. Was, wenn ich nein sage? Wenn ich mich widersetze? Wird er sich dann nicht trotzdem holen, was er will? Hier ist kein Mensch, weit und breit. Zumindest keiner, der helfen würde oder auch nur etwas sagen. Aber die Kette würde er mir dann nicht geben. Ich weiß, was er von mir will, und dass es wehtun wird. Wahrscheinlich hat er eine Tochter in meinem Alter. „Wie ist dein Name, Mädchen?“, fragt der Mann und zieht die Hand mit der Kette weg, so dass ich wieder nach oben blicken muss, um sie zu sehen. Ich will diese Kette; ich könnte meinen leeren Magen monatelang mit Essen füllen, nur durch diesen einen, funkelnden Stein, der wahrscheinlich wertvoller ist, als ich es mir vorstellen kann. „Nun komm schon … zier dich nicht so.“ Er wird langsam ungeduldig, hört sich jetzt nicht mehr so freundlich an. Meine Chance entgleitet mir. Ich kann es schnell hinter mich bringen. Der Mann streckt die freie Hand nach mir aus und will, dass ich sie ergreife. Ich ziehe verlegen meinen Rocksaum zurecht und stehe auf. Männern wie ihm gefällt die Vorstellung, der Erste zu sein, und auf gewisse Weise ist er das auch. „Jazminka. Jazminka Borilova“, lüge ich nach einer Weile und rolle dabei das R mit meiner Zunge, wie es der Fürst angeblich tut. Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich schiebe meine Hand in die Hand des reichen Mannes und gehe mit ihm, wohin er will.