Kaum einer kannte die unterirdischen Tunnel und Gänge in und um Elysias so gut, wie der ehemalige Kommandant dieser Stadt. Und auch, wenn sich viel verändert hatte, seit Jayce vor über einem halben Jahr fortgegangen war, so waren diese doch geblieben — wenn nicht sogar noch weiter ausgebaut worden. Anders wäre es ihm wohl kaum gelungen, unbehelligt bis an die Stadtmauern heranzukommen und sich schließlich mit Simmons‘ Hilfe durch einen Seiteneingang Zugang zu verschaffen. Henry Simmons, diese treue Seele! Nicht nur dieses eine Mal wäre Jayce ohne seinen Freund und Landsmann wohl rettungslos verloren gewesen. Als Anführer von Jayce‘ persönlicher … nun, nennen wir es einmal ‘Leibwache’, hatte Simmons schon immer enge Kontakte zur Stadtwache gepflegt und von Zeit zu Zeit auch die eine oder andere Einheit seiner Männer zur Unterstützung abgestellt, vor allem dann, wenn die Stadtwache nicht unbedingt unter eigenem Namen operieren wollte … Mehr musste man wohl nicht wissen, um zu verstehen, dass es ein Leichtes für Simmons war, unter anderem hier und da einmal Personen oder auch Dinge nach Elysias ein- oder auszuschleusen. Schon bei Kerike war er es gewesen, der inmitten gefährlichster Unruhen dafür gesorgt hatte, dass sie die Stadt unbeschadet hatte verlassen können. Hätte er es doch lieber nicht getan …
Doch das lag heute weit zurück und Jayce wusste sehr genau, dass er nicht Simmons die Schuld für Kerikes Verschwinden in die Schuhe schieben konnte. Genauso wenig, wie für die Ereignisse danach. Wie lange brauchte ein Mann Zeit für sich allein, um mit all diesen Dingen fertigzuwerden, um Antworten zu finden, die ihm wenigstens zum Weiterleben reichten? Wie lange brauchte ein Mann, um sich selbst zu vergeben; sich mit seiner Schuld zumindest soweit zu arrangieren, dass sie ihm nicht in jedem einzelnen Augenblick seines Lebens die Luft zum Atmen abschnürte? Wie lange brauchte ein Mann, um trotz des erdrückenden Gewichts der Gewissheit, des Unwiderruflichen, wieder aufrecht stehen zu können? Monat um Monat war ins Land gezogen, während Jayce verbissen und verzweifelt auf der Suche gewesen war, auf der Suche nach dem einzigen, kleinen Stückchen Wahrheit und unbedarfter Liebe in seinem Leben, welches ihm auf solch dramatische Weise abhanden gekommen war. Er selbst hatte alles zerstört, was je wirklich von Bedeutung gewesen war; nachdem er Kerike vertrieben und seinen Freund Abbas getötet hatte, von der Dämonin hämisch für all das verlacht, war seine ganz persönliche Niederlage besiegelt gewesen. Jayce war immer ein Mann mit Prinzipien gewesen; ein Mann mit einer harten Schale, loyal bis in den Tod. Um keinen Preis hätte er Elysias je im Stich lassen wollen, schon gar nicht auf jene Weise, wie es letztendlich doch geschehen war. Aber Kerike hatte den Panzer des Kommandanten aufgebrochen, sie hatte sein Herz freigelegt. Und all die Geschehnisse hatten ihm vor Augen geführt, dass er am Ende doch nur ein Mensch war. Schwach, verletzlich, schuldig. Und voller Zweifel.
Es war vermutlich nicht die beste Idee gewesen, nach Elysias zurückzukehren. Ganz besonders nicht nach allem, was er in den letzten Monaten gelernt und erfahren hatte. Jayce wusste, er setzte sein Leben aufs Spiel. Er brauchte sich nichts vorzumachen; dass Simmons immer noch zu ihm hielt, war reines Glück, und dafür war er mehr als nur dankbar, doch selbiges konnte er von sonst niemandem mehr erwarten. Allein in seiner eigenen Villa war er immer noch willkommen; Ljudmilas Wangen hatten vor Schreck und Freude zugleich wie reife Kirschen geleuchtet, als er nach Hause gekommen war. Sie hatte eine Schüssel mit dampfender Suppe fallen lassen und Jayce mit einem halb erstickten „Miester Färgasson!“ in ihre kräftigen Arme gezogen, dass ihm kurz die Luft weggeblieben war. Selbst der Butler Stefan tat immer noch unbeirrt seinen Dienst und auf seiner sonst so unbeweglichen Miene hatte sich gar ein Lächeln abgezeichnet, als er seinen Dienstherrn nach all der Zeit wieder begrüßen durfte. Simmons hatte sich während Jayce‘ Abwesenheit wirklich um alles gekümmert; selbst die von Vandalen eingeworfenen Fenster hatte er reparieren lassen, und es war beinah, als wäre er nie weggewesen.
Also hatte er sich ein paar Tage lang in seiner Villa aufgehalten; selbst den Garten betrat er eigentlich nur noch nachts, um nicht gesehen zu werden. Doch allen war klar, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. So schön es auch war, von Ljudmilas Kochkünsten verwöhnt und durch ihre Herzlichkeit bemuttert zu werden, so schön auch all die Annehmlichkeiten waren, auf die er so viele Monate hatte verzichten müssen, das alles war nicht der Grund, weshalb Jayce zurück gekommen war. Geschützt hinter verhangenen Fenstern und von seinen Wachen, die auf dem gesamten Anwesen patrouillierten, konnte er sich vielleicht eine Weile vormachen, dass alles gut war – doch die Stille im Haus erinnerte ihn mehr als alles andere daran, dass das Ende der Geschichte noch lange nicht geschrieben war. Er hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt auf seiner langen Suche nach Kerike, als dass er dieses Schweigen noch länger dulden konnte. Aus Jayce Fergusson war ein anderer Mann geworden; einer, der die Missstände nun wirklich kannte, der sie am eigenen Leib erfahren hatte und dessen Herz so viele hundert Male gebrochen war, dass er irgendwann beschlossen hatte, wieder aufzustehen und zu kämpfen. Mehr als jemals zuvor, für Kerike, für Abbas. Für sie alle.